München. - Europa, so sagt der slowenische Schriftsteller Ales Steger, liege ein radikaler demokratischer Gedanke zugrunde.
Derzeit beobachtet Steger eine „tiefgreifende Erschöpfung und soziale Ermattung“: Obwohl wir reicher sind als vorher, große technologische Möglichkeiten haben, gibt Europa das politische „Wie“ auf, findet sich mit den Unzulänglichkeiten des Sprechens ab. Die Stärken Europas seien in letzter Zeit in Vergessenheit geraten.
Eigentlich drehe sich alles um das „Wie“. Wie soll ich meine Wünsche und Ängste formulieren, damit mich alle in Europa verstehen? Vielleicht sei die Poesie ein Weg. „Ein Gedicht besetzt im politischen Sinn innere Freiheit und Radikalität. Es ist höchste Zeit, ein neues Hohes Lied auf Europa zu singen.“
Dass dies an der Zeit wäre, zeigt ein Blick auf das Brexit-Tohuwabohu. Fast ein“Anti-Brexit-Special“ findet am Wochenende 17./18. November statt mit Lesungen und Diskussionen irischer, schottischer und englischer Schriftstellerinnen wie A. L. Kennedy, Nuala Ni Dhomhnaill, Jo Shapcott.
Die Argentinierin María Cecilia Barbetta löste im Gespräch mit der Zürcher Literaturwissenschaftlerin und –kritikerin Christine Lötscher die Grenzen zwischen Europa und der übrigen Welt auf. Sie zitierte aus ihrem neuen, für den Deutschen Buchpreis nominierten Buch „Nachtleuchten“. Darin geht es um eine kleine Madonnenstatuette, die dank einer aufgepinselten Leuchtfarbe im Dunkeln leuchtet und für ihre Besitzerin, Schülerin einer katholischen Schule, Magie entfaltet. Die Geschichte spielt zu Zeiten der Militärdiktatur in den 70-er-Jahren in Ballester, einem Stadtteil von Buenos Aires.„In Ballester steckt viel von Berlin“ (Barbetta lebt in Berlin-Kreuzberg). „Den Friseursalon ‚Ewige Schönheit‘ aus meinem Buch gibt es auch in Berlin.“
[caption id="attachment_18941" align="aligncenter" width="646"] Literaturfest München 2018. Foto: (c)Juliana Krohn[/caption]Sprachliche Hürden als positive Chancen stellt das diesjährige forum:autoren mit „Schönes Babel. Europäische Lektüren“ in den Mittelpunkt.
Kurator und Büchner-Preisträger Jan Wagner und die rund 80 Autorinnen und Autoren wollen zeigen, wie sich europäische Vielfalt und Einheit gegenseitig inspirieren. „Was kann die Literatur Europa geben? Sie kann die Sprachenvielfalt feiern!
Frieden- und Geschwister-Scholl-Preisträger Liao Yiwu brachte ein Gedicht, das er unter dem Eindruck des Massakers am Tiananmen-Platz 1989 in Peking schrieb, vier Jahre Gefängnis ein und Jahre der Angst, Angst vor dem Vergessen werden. „Dagegen musste ich anschreiben“. Auf dem Literaturfest präsentiert er sein neues Buch „Drei wertlose Visa und ein toter Reisepass. Meine lange Flucht aus China.“
Total global wurde Wissenschaftsjournalist und Astrophysiker Harald Lesch bei der Diskussion mit Christine Lötscher und mahnte „weniger von allem“ an. Es sei allerhöchste Zeit, sich im Konsum zu bescheiden und vor allem aus den fossilen Brennstoffen auszusteigen. „Wir haben nur noch wenig Zeit, vielleicht 10, 15 Jahre. Sonst werden auch bei uns Klimakatastrophen wie in Italien und Kalifornien die Regel.“ In seinem neuen Buch „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ setzt er sich mit dem Thema auseinander.
Allen Schreckensszenarien und europäischen Ängsten zum Trotz gab es auch etwas zum reinen Genießen am Eröffnungsabend des Literaturfestivals. Die Geschwister Maria (Cello) und Matthias Well (Geige) aus der berühmten Musikerdynastie Well überzeugten mit einer wunderbaren Klangmischung aus Klassik, Jazz und Folklore. Europäische Vielfalt beziehungsweise der bayrisch-französisch-ungarische Hintergrund des Duos ist der individuelle Quell der Kunst. Noch ist Europa nicht verloren. Autorin: Doris Losch
Weitere Informationen: www.literaturfest-muenchen.de #litmuc18
Titelbild: Plakatmotiv Literaturfest München 2018