Lesesonntag: Ich liebe meinen über das ganze Gesicht grinsenden, singenden muslimischen Tuc-tuc-Fahrer mit Spitzbart, der aus Stolz kein Trinkgeld akzeptiert und freitags eine Affenfahrt hinlegt, damit er rechtzeitig um drei in die Moschee kommt.
Ich liebe meine chinesische Familie, die das Geld zählt, damit alle Kinder eine gute Bildung bekommen – von denen aber keiner etwas für sich behält.
Ich liebe die buddhistischen Bauern, die sich weigern, reifenden Wassermelonen eine Giftspritze ins Fruchtfleisch zu verpassen, wie es neuerdings gegen Schädlinge praktiziert wird, weil sie es nicht vertreten können, ihren Nachbarn einen solchen Mist anzudrehen.
Ich liebe die einfachen Menschen, die nichts anderes wollen als friedlich leben und "schöne Energien austauschen", weil der "Nektar der Freude" für sie die eigentliche Nahrung ist.
Und ich kann mir gut vorstellen in einer Stadt wie Berlin zu leben, in der es Syria-Town neben dem indischen Viertel gibt und und und ... Solche Städte haben mir eigentlich immer am besten gefallen.
Aber ich ärgere mich über Touristen, die sich auf einer zu 95% muslimischen Insel breit machen, 100 Euro für einen Tauchgang zahlen, Egoismus für das Menschliche an sich halten und beim abendlichen Drink ihre Hassparolen auskotzen. Ohne auch nur die geringste Bereitschaft aufzubringen, mal die eigenen Schwächen unter die Lupe zu nehmen. Die sogar völlig taub sind auf diesem Ohr. Die stattdessen behaupten: "Wenn du nicht zuerst absahnst, tun es andere. Bescheißt du nicht die anderen, bist du der Beschissene" – und das für clever halten. Die nicht merken, wie sie sich durch eine solche Einstellung die ganze Welt zum Feind machen und sie eigentlich alles und jeden hassen, außer den Fischen unter Wasser, die noch mit einem ursprünglichen Plan verbunden sind, – "Wahnsinn, wie da unten alles so ganz natürlich zusammenspielt" – und am liebsten den gesamten Planeten im Meer versinken sähen. Die glauben, voll informiert zu sein, weil sie sich alle zehn Minuten die Nachrichten reinziehen und die Statements sämtlicher Politiker weltweit auswendig kennen.
Hier muss ich mich in radikaler Empathie üben, um die andere Wahrheit in ihnen berühren zu können, die eine andere Sprache spricht und andere Entscheidungen fällt. Ich muss mich in radikaler Empathie üben, um das unterernährte Herz und die vor Angst klappernden Knochen eines Menschen spüren zu können, dessen Innenleben völlig abgemagert ist, während sein Äußeres von den Giften des Wohlstands zersetzt wird. Damit er schließlich von alleine merkt, dass er nicht informiert, sondern infiltriert ist, instrumentalisierter Knecht elendiger Machtideologien. Dass er durch sein eigenes Verhalten verhindert, auch über Wasser das bunte Zusammenspiel der Kräfte zu feiern und dies als völlig natürlich zu empfinden.
Wenn ich den dann auch noch liebe, merke ich, dass eine andere Intelligenz siegt und sich etwas umkehrt; aber erst dann.
Über die Autorin: Christina Kessler ist Ethnologin, Philosophin, Soziologin und interkulturelle Mediatorin - seit vielen Jahren spezialisiert auf Wandlungsprozesse und deren innere Dynamik.
Ihre bekanntesten Publikationen: „Amo ergo sum – ich liebe, also bin ich“, „Wilder Geist, wildes Herz – Kompass in stürmischen Zeiten“ , „33 Herzensqualitäten – Die Intelligenz der Liebe“.
Letztlich geht es darum, immer wieder sich selbst zu überwinden. Genau das sagen die einfachen Menschen, egal welcher Herkunft. Es ist eine einfache Ideologie, ethisches Basiswissens.
Es sind nicht die unterschiedlichen Kulturen, die Feindschaft erzeugen. Es ist das Trennende, Zerstörerische, Komplizierte, das automatisch hochpoppt, wenn "mensch" aus seiner Mitte kippt. Inzwischen wage ich zu sagen: „Das ist die Wahrheit.“ Und im Brustton der Überzeugung: "Selig die Einfachen im Geiste. Ihrer ist das Himmelreich."
Es GIBT universale Erkenntnisse. Das Relative liegt einfach nur auf einer anderen Betrachtungs- und Ausdrucksebene. Beides kann hervorragend nebeneinander bestehen, und es MUSS auch beides bestehen bleiben. Wenn Zukunft gelingen will, braucht die Menschheit einen wahnsinnig flexiblen Geist, fähig zum fliegenden Perspektivenwechsel und ein echt wildes zentriertes Herz. Aber dann wird es kraftvoll. Und: das ist absolut machbar.
Dr. phil. Christina Kessler ist Kulturanthropologin, Autorin und interkulturelle Mediatorin. Sie lebt in Asien und Berlin und befindet sich derzeit in Indien.
Weitere Informationen:
www.christinakessler.com
Titelbild u.Foto: Dr. phil. Christiane Kessler. Foto: Wangchuk Fargo, www.theapricotreehotel.com